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DIE HINTERGRÜNDE

Es folgt eine kurze Beschreibung der Hintergründe (detaillierter erzählt in Apus Memoiren):



Während des Zweiten Weltkriegs wurde Apu in die ungarische Armee eingezogen und zur Arbeit in einem Arbeitsbataillon gezwungen (Juden war es nicht gestattet, Waffen zu tragen). Gegen Ende des Jahres 1944 wurde er ausgesondert und einer Gruppe von ungefähr 150 jüdischen Zwangsarbeitern zugeteilt, die einen Marschbefehl an die österreichische Grenze erhielten. Dort angekommen, wurden die Arbeiter dem deutschen Kommando übergeben. Sie wurden nach St. Anna am Aigen verlegt und in einem Lager untergebracht. Jeden Tag mussten sie auf Befehl der deutschen Soldaten zu ihrer Arbeitsstelle marschieren, wo sie ein massives Panzergrabensystem ausheben mussten.

Die Deutschen errichteten damals Verteidigungsanlagen entlang der österreichischen Grenze, um den Vormarsch der russischen Kräfte zu verlangsamen oder vollständig aufzuhalten. Mein Vater lebte von Ende Jänner bis Anfang April 1945 in diesem Lager und arbeitete an der Errichtung des Grabensystems mit.

Die Arbeit war hart, das Essen armselig. Das Frühstück bestand aus einem Stück Brot und einer braunen Flüssigkeit, die „Kaffee“ genannt wurde. Mittagessen gab es keines. Zum Abendessen gab es eine Schale mit einer Flüssigkeit darin, die als „Suppe“ bezeichnet wurde. Meinem Vater wurde schnell klar, dass er, sollte es ihm nicht gelingen, zusätzliches Essen aufzutreiben, schwach und krank werden und sehr wahrscheinlich verhungern würde.


Der Tagesablauf sah folgendermaßen aus: Aufstehen, Frühstück, Antreten im Hof, Durchzählen und Abmarsch zur Arbeit, begleitet von Soldaten. Dort angekommen erfuhren die Zwangsarbeiter, die in Gruppen zu je zehn Personen eingeteilt waren, wie viel sie an diesem Tag zu leisten hatten. Während der Arbeit waren sie im Wesentlichen unbewacht. Nach Erledigung ihres Pensums durften sie in die Baracke zurückkehren. Je schneller sie fertig waren, desto schneller konnten sie zurück, um sich auszuruhen. Sie durften ohne Beaufsichtigung heimmarschieren, mussten sich jedoch zurückmelden und wurden durchgezählt, um sicherzustellen, dass auch alle heimgekehrt waren. Beendete eine Gruppe ihre Arbeit frühzeitig, hatten die Arbeiter, nachdem sie sich zurückgemeldet hatten, vor dem Abendessen etwas freie Zeit zur Verfügung.



Nun drängt sich natürlich die Frage auf, warum die Arbeiter, die doch während des Tages unbeaufsichtigt waren und alleine in das Lager zurückgehen durften, nicht versuchten zu fliehen? Mein Vater meint dazu, dass es sicherer war, im Lager zu bleiben. Als Zwangsarbeiter verfügten sie über eine Unterkunft und erhielten zumindest minimale Essensrationen. Hätte man sie beim Herumwandern erwischt, wären sie sofort erschossen worden. Wohin sollten sie auch fliehen? Wer würde ihnen zu Hilfe kommen? Ein Fluchtversuch hätte zu viele Risiken mit sich gebracht.


Eines Tages bemerkte mein Vater auf dem Weg zur Arbeit mehrere Lebensmittelpakete am Straßenrand. Er erwischte keines, da es zu viele Arbeiter und zu wenige Pakete gab. Aber er sah darin ein Zeichen für die freundliche Gesinnung der lokalen Bevölkerung. Und so suchten mein Vater und einer seiner Kameraden eines Abends, nachdem sie in die Baracke heimgekehrt waren und sich zurückgemeldet hatten, eine Ecke der Anlage auf, die die Wachtposten nicht einsehen konnten. Dort sprangen sie über den Zaun und liefen ins nächstgelegene Dorf. Sie klopften an eine Tür und baten um Lebensmittel. Und tatsächlich wurden sie mit Essen versorgt. Es gelang ihnen, vor Einbruch der Dunkelheit in das Lager zurückzuschleichen.


In der Folge stahlen sich mein Vater und sein Freund von Zeit zu Zeit aus dem Lager, um sich Essen zu beschaffen. Nicht jeden Tag, aber alle paar Tage. Sie suchten nie den gleichen Ort zweimal auf, sondern gingen jedes Mal in das nächste nahegelegene Dorf. Meistens erhielten sie Äpfel (die in dieser Region reichlich verfügbar waren und es offenbar auch heute noch sind). Mein Vater tauschte diese Äpfel bei ukrainischen Arbeitern gegen Tabak ein (den er besser in seiner Tasche verstecken und der ihm in der Nacht weniger leicht gestohlen werden konnte). In den folgenden Tagen tauschte er bei den Ukrainern etwas von dem Tabak gegen zusätzliche Suppenrationen ein. Hatte er keinen Tabak mehr, schlich er sich gemeinsam mit seinem Kameraden wieder hinaus, um sich weitere Äpfel zu besorgen. Auch die Ukrainer waren Zwangsarbeiter. Da sie jedoch keine Juden waren, wurden sie von den Deutschen etwas besser behandelt. Die Ukrainer kontrollierten die Zuteilung der Mahlzeiten an die Juden. Die Suppe, die mein Vater als normale Ration enthielt, bestand nur aus Flüssigkeit. Doch die Suppe, die er gegen seine Äpfel und gegen seinen Tabak eintauschen konnte, enthielt Kohl- und Kartoffelstücke. Sie stammte aus dem unteren Teil des Kochtopfes. Die Ukrainer hatten Verbindungen zur Küche und aßen die Suppe aus der unteren Topfhälfte, während die Juden normalerweise nur die Flüssigkeit aus dem oberen Teil erhielten.


Jedes Mal, wenn sich mein Vater und sein Freund aus dem Lager fortstahlen, setzten sie ihr Leben und das Leben der guten Seelen aufs Spiel, die ihnen halfen. Wäre Apu von den deutschen Soldaten erwischt worden, sie hätten ihn höchstwahrscheinlich erschossen. Und da es verboten war, Juden zu helfen, wären wahrscheinlich auch ihre Helfer in den Dörfern ermordet worden, hätte man sie geschnappt. Erstaunlicherweise versorgten die Bewohner von St. Anna meinen Vater nicht nur mit Essen, es wurde auch nicht über Hilfesuchende „getratscht“. Niemand verriet sie. Man hatte sich stillschweigend verschworen, den Juden zu helfen. Apu ist überzeugt davon, dass er diesen herzensguten Menschen sein Leben verdankt. Und nun, 60 Jahre später, hat er beschlossen, dass es Zeit für ein Dankeschön ist.

 




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