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SAMSTAG 18. JUNI

Zurück in Wien besuchen wir das Krankenhaus, in dem ich wenige Tage, nachdem meine Eltern während des Volksaufstandes 1956 aus Ungarn geflohen waren, zur Welt kam. Meine Mutter war damals im 9. Monat schwanger. Mit ihrem knapp 10jährigen Sohn an der Hand stahlen sich meine Eltern über die österreichische Grenze, während sie von Grenzwachebeamten beschossen wurden. Doch das ist eine andere Geschichte. Morgen fliegen wir nach Los Angeles zurück.

 

 

Meine erste Reise nach Österreich fand Anfang 1945 statt, im Rahmen eines Todesmarsches, eskortiert von brutalen, eigens dafür geschulten ungarischen Militärpolizisten.



Meine zweite Reise nach Österreich trat ich gemeinsam mit meiner Familie an, auf einem etwas ungewöhnlichen Weg und zu einem ebenso ungewöhnlichen Zeitpunkt. Man schrieb das Jahr 1956, es war die Zeit des ungarischen Volksaufstandes und die Grenze zwischen Österreich und Ungarn war für kurze Zeit offen.

Hunderttausende nutzten die Gelegenheit und flohen aus dem kommunistischen Ungarn in den Westen, in die Freiheit. Unsere kleine Familie war auch darunter. Sie bestand aus meiner Frau Anna, meinem Sohn David, Annas Kusine Elisabeth, deren Freund John und mir. Am 15. November fuhren wir mit dem Zug von Budapest an die österreichische Grenze, und zwar auf der Strecke Budapest - Györ - Sopron - Ebenfurt. Im Zug erfuhren wir, dass die kürzeste Entfernung zwischen einem ungarischen und einem österreichischen Dorf zwischen Kópháza und Deutschkreutz lag. Also verließen wir am Bahnhof Kópháza den Zug und überquerten die Grenze zu Fuß, um ins österreichische Deutschkreutz zu gelangen. Wir wurden von der lokalen Bevölkerung sehr herzlich empfangen. Von hier fuhren wir weiter nach Wien, um die nötigen Dokumente für unsere Weiterreise in die Vereinigten Staaten von Amerika zu bekommen. Am 7. Dezember standen wir auf dem Wiener Flughafen bereit, um unsere Reise in die USA fortzusetzen, als die Natur ihr Recht verlangte und Anna rasch ins Krankenhaus gebracht werden musste, wo sie Ron zur Welt brachte. Nach dieser kurzen Verzögerung traten wir schließlich am 21. Dezember unsere Reise nach Übersee an. Am 22. Dezember landeten wir in den USA. Und begrüßten das neue Jahr 1957 als Bewohner von Brooklyn, New York City.

Am Samstag, dem 18. Juni, trafen wir den Mann von Dr. Lappin, Dr. Peter Eppel, der als Kurator des Wien Museums tätig ist. Er war eifrig mit der Gestaltung einer Ausstellung beschäftigt, die an den Zustrom der ungarischen Flüchtlinge und ihre Lebensumstände während und unmittelbar nach dem ungarischen Volksaufstand im Jahr 1956 erinnern sollte. Die Ausstellung sollte im Spätherbst 2006 anlässlich des 50. Jahrestages der Ereignisse eröffnet werden. Wir sprachen mit Dr. Eppel über unsere persönlichen Erfahrungen während unseres Aufenthalts in Österreich. Ich versprach ihm, passende Objekte für die Ausstellung zu schicken, was ich auch tat. Und wir setzten unsere Korrespondenz auch in der Folge fort.

Am Sonntag, dem 19. Juni, flogen wir nach Amerika zurück. In einer kurzen Woche hatten wir einige der wichtigsten Stationen meines Lebens besucht. Dabei hatten wir außergewöhnliche Menschen getroffen und neue Freundschaften geschlossen.

Anfang Juli, nach unserer Rückkehr aus Österreich, schrieb ich Bürgermeister Josef Weinhandl einen Brief:
Meine außergewöhnliche Reise ist zu Ende und ich bin wieder zu Hause. Durch die souveräne Art, mit der Sie das tägliche Programm während meines Besuches in St. Anna organisierten, war der Trip sehr erfolgreich. Während meines kurzen Aufenthalts in St. Anna konnte ich beobachten, wie Sie das Geschehen in Ihrer Gemeinde mit einem kurzen Blick, mit einer leichten Bewegung Ihrer Arme, mit Ihrer Körpersprache steuern, genauso, wie große Dirigenten die mehr als 100 Mitglieder der Philharmoniker dazu bringen, harmonisch zu musizieren und ein unvergessliches musikalisches Ereignis zu schaffen.

Jeder Führungsperson, die große Leistungen verantwortet, steht ein ebenso großartiger und liebevoller Partner beratend und unterstützend zur Seite. Sie haben das große Glück, eine liebevolle und fürsorgliche Gattin zu haben.

Mein Vater war erfolgreich; er hatte meine Mutter, die ihm eine liebevolle, fürsorgliche Ehefrau war und ihn unterstützte.

Meine Söhne sind in den von ihnen gewählten Berufen in hohe Positionen aufgestiegen. Sie haben liebevolle Ehefrauen, die sie unterstützen.

Ich war als Ingenieur erfolgreich. Und auch Anna war eine solche Ehefrau.

Ich bin auch bei meiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Klinik erfolgreich, in der Anna behandelt wurde. Die Ärzte und Krankenschwestern betreuten sie liebevoll und mit größter Sorgfalt. Ich bin erfolgreich, weil ich das Gefühl habe, dass mich die Liebe meiner verstorbenen Frau dort noch immer umgibt.

Wenn ich während meines Aufenthalts in St. Anna in Ihrer Gesellschaft war und Bewohner der Marktgemeinde an Sie herantraten, um etwas mit Ihnen zu besprechen, konnte ich den Ihnen entgegengebrachten Respekt wie einen Lichtstrahl spüren. Ich konnte spüren, wie mich dieser Lichtstrahl streifte.

Dank Ihrer Hilfe konnte ich der lokalen Bevölkerung für die außergewöhnliche Großzügigkeit und Menschlichkeit danken, die sie Anfang 1945 angesichts der ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter, unter ihnen auch ich, bewiesen hatte.

Während die Fotos vor dem Denkmal für den Zweiten Weltkrieg gemacht wurden, schüttelten wir beide einander wortlos die Hand. Ich blickte in Ihre Augen, Sie blickten in meine Augen. Schweigend drückte ich meine Dankbarkeit für Ihre großartigen Bemühungen aus, die Gräueltaten der Nazis ebenso aufzudecken wie die - im Gegensatz dazu stehende - heldenhafte Unterstützung der Bevölkerung für die geschundenen Juden. Mit Ihren Augen erwiderten Sie meine Dankbarkeit und versprachen, diesen Prozess des Aufdeckens und Sammelns von historischen Fakten rund um den Widerstand Ihrer Marktgemeinde gegen den nationalsozialistischen Wahnsinn fortzusetzen. (Anstatt Ihnen die Hand zu schütteln hätte ich Sie gerne umarmt, aber ich hatte Angst, Sie in Verlegenheit zu bringen.)
Danke für Ihre großartige Gastfreundschaft.

 

                                         7. Händeschütteln mit dem Bürgermeister




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